Armdrücken am Aktienmarkt – mit Carmen Giovanazzi

In den letzten Jahrzehnten hat sich der Finanzmarkt grundlegend verändert. Es gibt neue technische Infrastruktur, neue Finanzprodukte und neue Akteure, die andere Interessen und Vorgehensweisen haben. Parallel gab es neoliberale Entwicklungen, die maßgeblichen Einfluss auf den Aktienmarkt hatten.

Transkript: Interview mit Carmen Giovanazzi

Hallo und herzlich willkommen zu den Wirtschaftsfragen. In den letzten Jahrzehnten hat sich der Finanzmarkt grundlegend verändert. Von der Technik über neue Finanzprodukte bis hin zu neuen Eigentümern mit einem ganz neuen Interesse. All das wird durch den jeweiligen wirtschaftspolitischen Zeitgeist einer Regierung begleitet und hat makroökonomische Auswirkungen. Mein Name ist Lukas Scholle und heute sehen wir uns zumindest die Eigentumsformen und die Gewinne am Aktienmarkt etwas näher an.


Carmen Giovannazi: Von Larry Fink, dem Vorstand von Blackrock, gibt es immer mal wieder Briefe. Zum Beispiel, die sind sehr bekannt geworden, in denen dann Unternehmen aufgefordert werden, dieses oder jenes zu tun. Und das ist sicher eine neue Art von Druckmittel, die da ins Spiel kommt. Und das ist aus demokratischer Sicht auf jeden Fall ein großes Problem. Es ist auch eine Machtverschiebung innerhalb der Shareholder weg von Kleinanlegern hin zu den großen Vermögensverwaltern. Das ergibt wesentliche Vorteile eben für diejenigen Anleger, die mit mehr Kapital investiert sind.


Das war Carmen Giovannazi. Sie ist Ökonomin, hat als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bundestag gearbeitet und promoviert derzeit an der Uni Duisburg zu Eigentümer-Strukturen und Ausschüttungen von Kapitalgesellschaften. Insbesondere die Eigentümerstruktur von börsennotierten Unternehmen haben sich nämlich in den letzten Jahren international, als auch national stark verändert.

Ein gutes Beispiel hierfür ist die USA. Im Jahr 1945 wurden 95 Prozent des privaten Unternehmenskapitals von Haushalten besessen. Hierbei werden auch Private Equity Fonds also Beteiligungen an nicht börsennotierten Unternehmen und inländische Hedgefonds, die höhere Risiken eingehen, unter Haushalte zusammengefasst. Dieser Anteil von 95 Prozent im Jahr 1945 nahm dann stark ab und lag 1980 nur noch bei 60 Prozent und liegt seit Anfang der 2000er Jahre bei rund 45 Prozent. Das zeigt eine relativ tiefgreifende Veränderung der Anteilshalter. Das ist dahingehend spannend, da sich die Interessen und die Vorgehensweisen bei den unterschiedlichen Eigentümern mal stärker und mal weniger stark voneinander unterscheiden. Auf der anderen Seite von den Haushalten gibt es ganz unterschiedliche Player. Die relevantesten lassen sich dabei in unterschiedliche Phasen unterteilen. Von 1980 bis 1995 hatten die öffentlichen und privaten Pensionsfonds einen relativ starken Anteil mit rund 20 Prozent. Auf ihnen folgte die Ära der Investmentfonds, die ab den 2000er Jahren ihren Anteil stark ausbauen und heute einen Anteil von rund 20 Prozent ausmachen. Im Gegensatz zu den Pensionsfonds sind sie auch heute noch sehr stark relevant. Während es die Investmentfonds schon seit 1945 gibt und sie bis 1945 nur 5 bis 10 Prozent ausmachten, gibt es seit den 2000er Jahren eine ganz neue Entwicklung. Das sind die sogenannten ETFs, die Anfang der 2000er Jahre bei null Prozent starteten und 2020 fast 10 Prozent ausmachten. Also ein relativ schnelles Wachstum im Vergleich zur Existenz-Dauer.

Neben den genannten Akteuren gibt es auch noch das Ausland, das einen immer größeren Anteil erzielte und einige kleine Akteure, die wir jetzt mal vernachlässigen. Die spannenden Entwicklungen sollten aber klar sein: Erst die Haushalte, dann die Pensionsfonds, dann die Investmentfonds und nun die ETFs. Wie die ETF-Anbieter ihre Stimmrechte von den gehaltenen Aktien wahrnehmen, werden wir später noch genauer betrachten.

Liebe Carmen, du untersuchst ja in deiner Forschung auch die Eigentümerstruktur von börsennotierten Unternehmen. Diese haben sich in den letzten Jahren, wie grad dargestellt, grundlegend geändert. Wie sieht diese Entwicklung in Deutschland aus?


Deutschland ist klassischerweise eine koordinierte Marktwirtschaft mit einem Bank-basierten System. Das heißt für den Unternehmenssektor, dass dieser sich vornehmlich über Kredite bei Hausbanken finanziert hat und der Kapitalmarkt eine untergeordnete Rolle spielte. Das zeigte sich auch in den Eigentümerstrukturen der Unternehmen. Bis in die 2000er Jahre haben also insbesondere börsennotierte Unternehmen sich gegenseitig gehalten und insbesondere große Versicherer und Banken hielten also größere Beteiligungen. Und da sprach man von der sogenannten Deutschland AG. Mit Beginn der 2000er Jahre löste sich diese dann sukzessive auf, vornehmlich weil die Kapitalmärkte integriert wurden und internationaler wurden. Es wurden auch Finanzmärkte dereguliert und spekulativere Finanzmarkt-Akteure zugelassen, also beispielsweise Hedgefonds, die seit 2004 erst in Deutschland erlaubt sind. Und somit sah man dann eine Eigentümerstruktur, die zunehmend international wurde.

Im Jahr 2020 sieht es dann so aus, dass am DAX etwa 62 Prozent von institutionellen Investoren gehalten werden und etwa 18 Prozent von strategischen Investoren. Und mit strategischen Investoren meinen wir andere Unternehmen, aber auch Familien. Und das ist ein besonderes Merkmal der deutschen Unternehmenslandschaft, dass diese geprägt ist von einem starken Mittelstand. Und da sind familiengeführte Unternehmen sehr stark vertreten. Die auch eine sehr starke Lobby haben und wiederum dann als Anker-Investoren auftreten. Institutionelle Investoren hingegen, ja, das ist ein Sammelbegriff für Institutionen, die insbesondere Gelder für ihre Kundinnen verwalten. Dazu gehören also klassischerweise Banken, Versicherungen, Aktienfonds, aber auch Pensionskassen, Hedgefonds und, diese Entwicklung ist ebenso bemerkenswert, Vermögensverwalter. Hier hat die Bedeutung auf jeden Fall zugenommen und die bekanntesten, größten und global marktbeherrschendsten Spieler sind Blackrock, Vanguard und State Street. Die kommen alle aus den USA und Blackrock allein hält also 6,3 Prozent am DAX. In Deutschland auch relevant ist Amundi aus Paris oder DWS aus Deutschland. Und auch die Sparkasse und die Volksbank haben ihre eigenen Vermögensverwalter. Diese Vermögensverwalter sind also Geldtöpfe, wenn man so will. Da wird Geld gepoolt und am Finanzmarkt angelegt. Für reiche Privatkunden, aber auch für andere institutionelle Investoren wie etwa Pensionskassen.

Zu guter Letzt kann man noch unterscheiden zwischen den aktiven und passiven Fonds. Also es gibt aktiv gemanagte Fonds, da sitzt der Portfoliomanager und sucht sich sein Portfolio aus einem Universum zusammen. Und es gibt eben passive Fonds. Das sind insbesondere Exchange Trading Funds, ETFs, Die bilden also die Entwicklung eines gewissen Index nach und kaufen oder verkaufen entsprechend der Index Entwicklung Anteile hinzu.


Da sind ja schon recht grundlegende Entwicklung bei den Eigentumsstrukturen und den Anlageformen. Mit dieser Veränderung wird sich auch die Entscheidungsfindung in den Unternehmen verändert haben. Was ist nun anders und was ist daran problematisch?

Carmen Giovannazi: Gerade bei den institutionellen Investoren und insbesondere bei den Vermögensverwaltern; Da stellt sich die Frage nach Macht und Einfluss auf die Unternehmensführung, also auf die Corporate Governance. Und klassischerweise haben börsennotierte Unternehmen einen Vorstand, der führt das Unternehmen und einen Aufsichtsrat, der kontrollierten Vorstand, und dann eben die Shareholder, also die Anteilseigner, die auf der Hauptversammlung Vorschläge machen, Proposals einreichen und auch etwa über die Vorstands-Vergütung oder so entscheiden. Und jetzt ist es so, dass gerade bei den international investierten Investoren natürlich tausende Anteile weltweit an verschiedenen Unternehmen gehalten werden, so dass überhaupt nicht die Fähigkeit besteht, da jedes Purposal im Einzelnen zu untersuchen. Und deshalb dirigieren dann diese Vermögensverwalter diese Aufgabe an Stimmrechts-Berater. Da gibt es eigentlich nur zwei, nämlich ISS und Glas Lewis. Und diese treffen dann unter relativ undurchsichtigen Bedingungen Entscheidungen eben über diese eingereichten Proposal. Und die Kriterien, nach denen das passiert, sind nicht wirklich einsehbar und es ist schwer nachzuvollziehen. Und man kann mal grundsätzlich davon ausgehen, dass das nicht im Sinne der Mitarbeiterinnen der Unternehmen passiert. Es gibt auch Vermögensverwalter, die Corporate Governance Teams haben, aber die sind klein aufgestellt und wurden auch häufig nur dann vergrößert, wenn es eben von außen Kritik gab.

Ein weiterer ganz wichtiger Punkt ist, dass insbesondere passive Investoren ja nicht die Möglichkeit haben, Anteile eines Unternehmens abzustoßen, wenn sie mit der Unternehmensführung nicht zufrieden sind. Also zu Exiten weil sie ja einen Index nachbilden. Und das bedeutet aber, dass sie eben dann andere Mittel und Wege finden, die Unternehmensführung zu beeinflussen, die vielleicht eben abseits des normalen Shareholder-Proposals liegen. Etwa durch Privatgespräche oder durch Aufforderung an die Vorstände, also von Larry Fink, dem Vorstand von Blackrock, gibt es immer mal wieder Briefe. Zum Beispiel, die sind ja bekannt geworden, in denen dann Unternehmen aufgefordert werden, dieses oder jenes zu tun. Und das ist sicher eine neue Art von Druckmittel, die da ins Spiel kommt. Und das ist aus demokratischer Sicht auf jeden Fall ein großes Problem. Es ist auch eine Machtverschiebung innerhalb der Shareholder weg von Kleinanlegern hin zu den großen Vermögensverwaltern. Und das ergibt wesentliche Vorteile eben für diejenigen Anleger, die mit mehr Kapital investiert sind.

Das bedeutet ja auch, dass die Macht Ungleichheit am Kapitalmarkt weiter zunimmt. Zeitgleich zu dieser Veränderung der Eigentümerstruktur hat sich auch das Sparverhalten der Unternehmen stark erhöht. Hängt das miteinander zusammen?

Carmen Giovannazi: Ja, die Unternehmens-Ersparnisse, die Ersparnisse des deutschen Unternehmens-Sektors, die sind in der Tat bemerkenswert, auch gerade im Vergleich zu den USA, wo eben wesentlich mehr ausgeschüttet wird und insbesondere auch über Aktienrückkäufe Geld an die Investoren zurückgegeben wird. Und die deutsche Unternehmens-Ersparnis, es gibt jetzt mehrere Überlegungen, woher das rührt und eine Möglichkeit ist eben, dass das schon mit den Eigentümerstruktur zusammenhängt. Da kann man davon ausgehen, eben weil der Mittelstand so stark ist, weil der Familienbesitz so ausgeprägt ist, dass es eben ein Vehikel ist, um beispielsweise Reichtum an die nächste Generation weiterzugeben in Form von betrieblichen Vermögen, was auch steuerlich bevorteilt wird in Deutschland. Das wäre so eine Option. Und den Gegenpol dazu bilden würden gewissermaßen ja institutionelle Investoren, die eventuell eher auf Ausschüttungen drängen und eben in Deutschland aber dann mit starken Anker-Investoren konfrontiert sind. Das wäre eine Möglichkeit. Es gibt aber auch sehr viel andere potenzielle Erklärungen für die makroökonomische Ersparnis des Unternehmens-Sektors, etwa wenn man keynesianisch darauf blicken möchte. Eine geringe Zuversicht mit Blick auf das, was die Zukunft bringt. Also die Überlegung, dass Unternehmen eben ihre Produkte nicht abgesetzt bekommen aufgrund einer Nachfrageschwäche und deshalb nicht investieren. Und eine andere Möglichkeit wäre aber auch noch eine sehr starke Risikoaversion der Deutschen. Also grundsätzlich einfach ein sehr anderes Investitionsverhalten, als wir das eben in den USA beobachten können. Ja, das Problem der Ersparnis ist natürlich, dass finanzielle Ressourcen unproduktiv herumliegen, obwohl die realen Ressourcen noch nicht voll ausgeschöpft sind. Und was das betrifft, würde ich sagen: Es macht einfach wenig Sinn, auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. Mit diesen Liquidity Cushion, also mit diesem Liquiditäts-Polster. Denn ja, ich werde ja auch nicht aus Angst davor zu stolpern, jetzt beim Spazierengehen Fahrradhelm tragen. Und überdies sind eben diese hohen Ersparnisse makroökonomisch schädlich und auch ein Ausdruck von Ungleichheit mit Blick auf Vermögen in Deutschland.

Über die Gründe und die Folgen des wenig ausgeprägten Investitionsverhalten von deutschen Unternehmen und auch über die politischen Handlungsmöglichkeiten werden wir sicherlich in einer der kommenden Folgen noch mal sprechen. So hat auch die mögliche Ampel unterschiedliche Pläne, private Investitionen anzukurbeln.

Liebe Carmen, gibt es aber noch einen weiteren Punkt, den du beim Thema Aktienmarkt besonders betonen möchtest.

Carmen Giovannazi: Also ich glaube, es gibt zwei Punkte, die in der Debatte häufig ein bisschen durcheinandergeraten. Der erste ist der Fall, dass wenn ich privat am Finanzmarkt investiere, also wenn ich einen ETF kaufe oder dergleichen, dann investiere ich eigentlich nicht, sondern ich spare. Also makroökonomisch habe ich nämlich nur die Möglichkeit, mit meinem verfügbaren Einkommen entweder zu konsumieren oder zu sparen. Und das Problem ist: Wenn die Sparquote in einer Volkswirtschaft sehr hoch ist, dann sind die Konsumausgaben eben zu niedrig. Und die sind aber maßgeblicher Träger der Binnennachfrage und damit eben auch der Produktion und Beschäftigung. Und der andere Teil dieser Nachfrage sind eben die Investitionsausgaben, die Unternehmen tätigen, wenn sie denn tatsächlich Geld in die Hand nehmen, um Maschinen zu kaufen, Kapitalgüter, die für die Produktion notwendig sind oder Strukturen. Und das sind dann eben Investitionen in physisches Kapital, die aber wahnsinnig verschieden sind von dem Geld, was ich eben privat anlege am Finanzmarkt. Im Übrigen kann natürlich auch ein Unternehmen kurzfristige Finanztitel kaufen und auch das ist dann Teil der Unternehmens-Ersparnis und eben nicht der realen Investition. Der zweite Irrglaube, der vorherrscht ist die Idee, dass ich, wenn ich eine Aktie kaufe, damit eben ein Unternehmen finanzieren würde. Das ist de facto nämlich nur der Fall beim Initial Public Offering [Anm.: Börsengang, erstes öffentliches Angebot von Wertpapieren eines Unternehmens.] oder eben in der zweiten oder dritten Finanzierungsrunde. Also wenn eben Aktien oder Anleihen von den Unternehmen begeben werden, dann finanzieren sie sich darüber. Aber ab dem Moment, ab dem die Aktien oder Anleihen kursieren, also handelbare Güter werden, die irgendeinen Anspruch verbriefen, bei einer Aktie eine Dividende, bei einer Anleihe einen Zins. Ab dem Moment wechseln sie ja die Hände auf dem Sekundärmarkt, also zwischen InvestorInnen verschiedener Klassen. Und damit dreht sich eben genau diese Beziehung zwischen Investor und Unternehmung um. Und ich bekomme jetzt Geld aus dem Unternehmen, wenn ich eine Aktie halte. Aber ich kaufe die Aktie ja von einem anderen Investor. Und ich denke mal gerade mit Blick auf Konsum-Reduktion während Corona-Zeiten der mittleren und Oberklasse und der Erleichterung von Finanzmarktgeschäften durch New Broker. Gerade deshalb ist es wichtig, dass wir begreifen, dass wenn wir uns ein Portfolio zusammenstellen, dann heißt das nicht, dass wir die Unternehmen finanzieren. Vielmehr erwerben wir handelbare Titel, die uns einen gewissen Anspruch auf eine Zahlung durch das Unternehmen sicherstellen.

Vielen Dank, Carmen! Da sind wirklich gute Punkte, die in der öffentlichen Debatte oft durcheinander gehen, insbesondere in den Fragen der Ungleichheit spielt der Aktienmarkt und auch die damit einhergehenden Prozesse wie die Änderung der Eigentümerstruktur als auch die Änderung der Gewinn Verwendung natürlich eine große Rolle. Auch die verteilungspolitischen Konsequenzen der Entwicklung der Aktienmärkte werden wir sicherlich noch mal betrachten. Wenn euch die Folge gefallen hat, könnt ihr die Wirtschaftsfragen gerne abonnieren oder weiterempfehlen. Bis zum nächsten Mal.

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